„Nachdenklich, inspiriert und aufgeladen“ – so fühlte sich ein Teilnehmer am Schluss der Leadership Expedition. Führungskräfte aus der Wirtschaft und aus der Kultur machten sich auf eine Expedition ins Spannungsfeld zwischen Künstlicher Intelligenz und Menschlichkeit. Einmal im Jahr kommen sie, als Mitglieder des Führungskräftenetzwerks im Rahmen solcher Leadership Expeditions zusammen. Sie diskutieren über aktuelle Herausforderungen von Führung, bekommen konkrete Denk- und Handlungsimpulse für Ihre Führungsarbeit und erweitern ihr berufliches Netzwerk.
Die doppelte Verantwortung von Unternehmen: Wie gelingt es erfolgreich zu wirtschaften und dabei mehr Gutes als Schlechtes in der Welt zu hinterlassen?
Paradoxien, verstanden als sich diametral gegenüberstehende, konkurrierende Anforderungen, lassen sich – anders als Probleme – nicht mit entweder-oder, sondern ausschließlich mit sowohl-als-auch bearbeiten.
Übertragen auf aktuelle globale und komplexe Herausforderungen bedeutet dies: Organisationen müssen einerseits weiter ihr Kerngeschäft mit Profit betreiben, um ihre Zukunftsfähigkeit zu sichern. Andererseits sind sie aufgefordert, zum „Wohl der Bürger der Weltgesellschaft“ zu handeln. Denn in einer globalisierten Welt können Staaten allein diese Leistung nicht mehr erbringen.
Damit haben Organisationen eine doppelte, paradoxale Verantwortung. Dabei spielen Führungskräfte eine besondere Rolle: Sie müssen sich von Polarisierung lösen und vermittelnd agieren.
Aufs Führungshandeln bezogen bedeutet das eine noch bewusstere Befassung mit dem Wie – Führungskräfte dürfen also Konflikte, Entscheidungen oder eben auch Paradoxien nicht im Keim ersticken, sondern sollten ihnen offen begegnen und sie im Interesse der Organisation nutzen.
Kein einfaches Unterfangen – vor allem, weil die direkte Führungs-Konkurrenz mit den Möglichkeiten der Künstlichen Intelligenz quasi schon um die Ecke schaut.
Und so formulierte Oliver Haas die steile These, dass generative Künstliche Intelligenz bereits heute in der Lage ist, eine durchschnittliche Führungskraft zu ersetzen.
„Bevor KI deinen Job übernimmt, übernimmt ihn jemand, der KI einsetzt.“
Digital-Expertin appelliert an Führungskräfte, neugierig, offen und schnell zu sein.
Lena-Sophie Müller, Direktorin der Initiative D21, nahm diesen Faden in ihrem Impuls auf und lud ein zu einem Streifzug durch die Genese, die Vielschichtigkeit, die Chancen und Potenziale, aber auch die Herausforderungen im Umgang mit generativer Künstlicher Intelligenz. Dabei sind die technologischen Entwicklungssprünge in den letzten Jahren immer kürzer geworden: Während bspw. zwischen der Nutzung von Floppy Discs und den ersten USB-Sticks noch einige Jahre lagen, brauchte Chat GPT nur 5 Tage um 1 Million Menschen zu erreichen.
Und Deutschland? Zwar habe Deutschland durch die Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) einen Goldstandard im Datenschutz vorgelegt, um den uns viele Staaten beneiden. Allerdings sei das Tempo im Verstehen und Umgang mit Künstlicher Intelligenz insgesamt zu langsam!
Ein Grund dafür: Deutschland kann als Mitglied der EU nicht eigenmächtig entscheiden, welcher staatlichen Rahmenbedingungen es für den Einsatz von KI bedarf. Ein EU-weiter KI-Act ist daher noch Zukunftsmusik. Gleichzeitig treiben Unternehmen die Forschung und Weiterentwicklung von KI kontinuierlich voran, was zu einer spürbaren Entkoppelung von Staat und Wirtschaft in der digitalen Transformation führt.
Was bedeutet all dies für Führungskräfte? Lena-Sophie Müller empfahl, sich an drei Leitfragen im Umgang mit KI zu orientieren: 1. Wie funktioniert das (technische Perspektive)? 2. Wie wirkt das (gesellschaftlich-kulturelle Perpektive)? 3. Wie nutze ich das (anwendungsbezogene Perspektive)?, um den Umgang mit Künstlicher Intelligenz verantwortungsvoll mitzugestalten.
Sehr einprägsam war auch die Aussage aus dem letztjährigen D21-Lagebild zur digitalen Gesellschaft: Demnach glaubten 80 % der Menschen, dass viele Berufe bis 2035 durch KI ersetzt sein würden. Aber nur 19 % befürchten, dass ihr eigener Beruf betroffen sei…
Führungskräfte müssen sich auf jeden Fall bewusst machen, dass sich die eigene Tätigkeit stark verändern wird – genauso wie die Tätigkeiten innerhalb des „eigenen“ Teams.
Kunst der Führung, Führung der Kunst: Die Oper ist ein Mikrokosmos menschlicher Konstellationen und Herausforderungen
Einige der Teilnehmenden gingen mit einem spürbaren Unwohlsein aus dem ersten Tag: Was heißt das alles? Bin ich als Arbeitskraft tatsächlich ersetzbar? Was kann und muss ich tun, um mit den technologischen Entwicklungen nicht nur mitzuhalten, sondern sie noch mehr für mich zu nutzen? Und nicht zuletzt: Will ich das alles überhaupt? Da tat es gut, dass der 2. Teil der Leadership Expedition ganz im Zeichen der Menschlichkeit stand. Ein bewusst gesetzter Kontrapunkt, ganz im Geiste des Sowohl-als-auch.Und wo kann man Menschlichkeit besser erleben als in der Kunst, hier: in der Staatsoper Unter den Linden?
Die Teilnehmenden bekamen tiefe und mitunter schonungslose Einblicke in die Arbeitswelt von Matthias Schulz, Intendant der Staatsoper Unter den Linden. Man darf feststellen: Martin Schulz ist es mit Beharrlichkeit und tiefer Menschenkenntnis gelungen, eine sehr hierarchisch geführte Organisation umzukrempeln. War die Staatsoper vor Schulz geprägt von einer Angstkultur ohne echte Dialogbereitschaft, ist sie jetzt zu einem Betrieb transformiert, in dem Menschen nicht nur eingeladen, sondern quasi aufgefordert sind, ihre Wahrnehmungen und Beobachtungen zu teilen.
Der nahbare Intendant teilte mit den Führungskräften nicht nur seine Lernerfahrungen, sondern auch, was der Transformationsprozess der Staatsoper mit ihm selbst „als Mensch“ gemacht hat. Ihm war und ist wichtig, die Perspektiven der Staatsoper-Mitarbeiter:innen zu erweitern und mehr fürs große Ganze zu denken. Er will dazu animieren, sich ins Gegenüber hineinzuversetzen, andere Positionen mitzudenken und den Kuchen gemeinsam größer zu machen anstatt zu schauen, wie man selbst das größte Stück bekommt. Dabei schreckt er vor den großen Fragen nicht zurück: Wer sind wir?, Was wollen wir? Was ist uns wichtig? Mit anderen Worten: Matthias Schulz rät dringend, die kollektive Identität einer Organisation immer wieder auf den Prüfstand zu stellen.
“Every human being is a miracle, let’s treat them this way!” –
Weltklasse-Regisseur Peter Sellars appelliert an Führungskräfte, Bewertungen zu unterlassen
Es gibt sie noch, die Menschen, die einen in ihren Bann ziehen, ohne ein Wort zu sagen. Peter Sellars gehört dazu. Der vielprämierte und weltbekannte Theaterregisseur füllte den Ballettsaal der Staatsoper mit einer sehr besonderen Magie des Miteinander. Er sprach über seinen menschenorientierten Führungsstil und die große Verantwortung gegenüber den eigenen Vorfahren und den nachfolgenden Generationen. Er empfahl, sich jeden Tag zu fragen: „Leiste ich heute einen Beitrag, die Welt ein Stück weit besser zu machen?“
Sellars weiter: Wir alle seien stark geprägt von Bewertungen, in der Kindheit, in der Schule, im Beruf, in der Familie. Doch seien nicht gerade die Momente im Leben die wichtigsten, in denen Bewertungen außen vor bleiben? Gelte es nicht vielmehr, in jedem Menschen, mit dem man zu tun habe, das wundervolle Potenzial zu sehen, das er verkörpert? Wir sind in der Regel so konditioniert, dass wir uns selbst ständig kritisieren, auf der Bühne, in der Kunst, aber auch in Arbeitsbeziehungen. „Warum können wir nicht den Schatz heben und einen Menschen erfahren lassen, wie besonders er ist?“, so Sellars.
Für einen der Teilnehmenden war das „die bedeutsamste Rede meines Lebens. Ich werde bald Vater, und sie kommt genau im richtigen Moment.“
Mehr Offenheit für KI. Aber auch ein Bewusstsein dafür, wann menschliche Führung unersetzlich ist
Die Menschheit steht an einem Kipppunkt. Wir haben heute die Möglichkeit, für nachwachsende Generationen eine lebenswerte Umwelt zu schaffen. Globale Herausforderungen sind komplex und paradox, aber sie sind menschengemacht und können daher auch von Menschen gelöst werden.
Führungskräfte haben dabei eine besondere Verantwortung: Sie können in ihren Organisationen neue, andere Fragen stellen und Umfelder schaffen, in denen auch Mehrdeutigkeit und Paradoxie zugelassen wird – und sie können sich gleichzeitig neuer digitaler Möglichkeiten bedienen. Sie brauchen dafür einen wachen Verstand, ausgeprägte Intuition und den Blick fürs große Ganze.
Dass Menschlichkeit und Künstliche Intelligenz nicht in einem Widerspruch stehen müssen, sondern sich ergänzen können, dass beides erkannt, durchreflektiert und genutzt werden muss – das ist eine wesentliche Erkenntnis der 2. Leadership Expedition.